NSU-Morde: Medien haben bei der Aufdeckung der Hintergründe versagt!

Im Herbst 2011 wurde bekannt, dass die Mordserie
an Menschen mit Migrationshintergrund und weitere Gewaltverbrechen
vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) verübt worden waren.
Staatliche Behörden hatten ein Jahrzehnt lang in die falsche Richtung
ermittelt. Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Landesebene lassen
keinen Zweifel: Der „NSU-Komplex“ steht für ein eklatantes
Staatsversagen. In einer aktuellen Studie der Otto Brenner Stiftung
wird jetzt der Frage nachgegangen, ob auch Medien bei der Aufdeckung
der Hintergründe der NSU-Mordserie versagt haben.

Der bittere Befund des Autorenteams Fabian Virchow, Tanja Thomas
und Elke Grittmann lautet: Bis auf wenige Ausnahmen folgten sehr
große Teile der medialen Berichterstattung der Logik und den
Deutungsmustern der Ermittlungsbehörden. Medien haben mit zur
Ausgrenzung der Opfer beigetragen, Angehörige stigmatisiert und sich
teilweise selbst mit „umfangreichen Spekulationen“ an der Tätersuche
beteiligt. Die Studie kommt laut OBS-Geschäftsführer Legrand zu dem
Ergebnis, „dass nicht nur die staatlichen Behörden 10 Jahre lang in
die falsche Richtung ermittelt haben, sondern auch Medien ein
Jahrzehnt lang diese Deutungsmuster und Mutmaßungen nicht konsequent
hinterfragt und unkritisch übernommen haben“.

Die Studie zeigt, dass polizeiliche Quellen Autorität genossen und
als glaubwürdig popularisiert wurden. Die enge Anbindung der
Berichterstattung an die polizeilichen Erkenntnisse bzw. Vermutungen,
so ein weiteres Ergebnis der innovativen Studie, „habe zu einer
einseitigen Gewichtung und Wahrnehmung der Quellen“ geführt.
Polizeiliche Quellen in Wort und Bild dominierten, Hinweise zu den
Tathintergründen aus dem Umfeld der Betroffenen wurden nicht
berücksichtigt. Mit dem von Journalisten geprägten Begriff
„Döner-Morde“, der über Jahre die mediale Berichterstattung
zuspitzte, wurden die Angehörigen der Opfer nicht als Betroffene
kommuniziert, sondern als Teil der „Anderen“ stigmatisiert,
ausgegrenzt und teilweise kriminalisiert. Aus vermuteten Verbindungen
zur „Organisierten Kriminalität“ wurden vielfach
Tatsachenbehauptungen gemacht und die Berichterstattung wurde
aufgeladen mit Spekulationen über „angebliche Milieus“ und
„Parallelwelten“. Es wurde, so ein weiterer Befund, eine „Mauer des
Schweigens“ identifiziert, die nicht nur die polizeiliche Arbeit
erschwere, „sondern auch Ausdruck unzureichender Integration in die
Mehrheitsgesellschaft sei“.

Die Ergebnisse der Studie, so OBS-Geschäftsführer Legrand, lesen
sich als Beleg für die These, „dass bei der Aufdeckung der
Hintergründe und wahren Zusammenhänge der NSU-Morde nicht nur
staatliche Ermittlungsbehörden versagt haben, sondern auch Teile der
Medien ihrer Aufgabe, gesellschaftliche Prozesse professionell zu
beobachten und kritische Öffentlichkeit herzustellen, nicht
nachgekommen und gerecht worden sind“.

Die OBS-Studie leistet aber mehr als eine erste Rekonstruktion der
Medienberichterstattung über die NSU-Mordserie. Das Autorenteam fragt
auch nach den redaktionellen Bedingungen der Berichterstattung und
unterbreitet Vorschläge, die Eingang finden sollten in die
journalistische Aus- und Weiterbildung. Ziel der Studie ist, „eine
fundierte und differenzierte Diskussion über die Rolle der
journalistischen Berichterstattung zu ermöglichen“, schreibt die
Stiftungsleitung im Vorwort. Außerdem will die OBS mit der
Veröffentlichung Journalisten dazu anregen, sich ergebnisoffen einer
selbstkritischen Reflexion zu stellen und konkrete Veränderungen in
der praktischen Arbeit umzusetzen.

Grundlage der Studie ist die Analyse der Berichterstattung
zwischen September 2000 und November 2011. Rund 300 Beiträge und 290
Bilder in der deutsch- und türkischsprachigen Presse in Deutschland
wurden ausgewertet. Ergänzend wurden medienkritische Analysen
herangezogen und Experteninterviews mit Journalisten geführt.

Fabian Virchow, Tanja Thomas, Elke Grittmann: „Das Unwort erklärt
die Untat“. Die Berichterstattung über die NSU-Morde – eine
Medienkritik; Studie der Otto Brenner Stiftung, AH 79, Frankfurt/Main
2015

Weitere Infos zur Studie, Bestellung oder Download und Kontakt zu
den Autoren: www.otto-brenner-stiftung.de

Terminhinweis: Im Rahmen der Veranstaltung „Black Box NSU – Warum
ist die Aufarbeitung des rechtsextremen Terrors gescheitert?“ werden
Ergebnisse der Studie vorgestellt und Folgerungen diskutiert.
Teilnehmer u.a.: Holger Münch, BKA-Präsident, Barbara John,
NSU-Ombudsfrau, Andreas Förster, Geheimdienst-Experte. Einladung für
den 29.1., Infos zur Veranstaltung und Anmeldung unter
www.otto-brenner-stiftung.de.

Pressekontakt:
Kontakt zum Autorenteam:
Fabian Virchow: fabian.virchow(at)fh-duesseldorf.de
Tanja Thomas: tanja.thomas@uni-tuebingen.de
Elke Grittmann: elke.grittmann@uni.leuphana.de

Kontakt zur Stiftung:
Jupp Legrand
Tel.: 069-6693-2810
info(at)otto-brenner-stiftung.de

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