Was ist so faszinierend am Prozess gegen Amanda
Knox? Das Opfer ist eine Britin (damals 21), die mutmaßlichen Mörder
sind ein Italiener (heute 29) und eine US-Amerikanerin (heute 26).
Tatort war am 1. November 2007 die italienische Stadt Perugia in
Umbrien. Obwohl Bezüge zur Tat mangels deutscher Beteiligung und Nähe
fehlen, beschäftigt der Mordfall die Leute hierzulande erstaunlich
stark. In den einschlägigen Internet-Foren finden sich auch bei uns
tausende Meinungsäußerungen zu Amanda Knox. Gerade in diesen Tagen,
nach dem Schuldurteil des Berufungsgerichts in Florenz. Schuldig,
unschuldig, schuldig – was die italienische Justiz in den mehr als
sechs Jahren nach der Tat geleistet hat, wirkt ebenso wenig
überzeugend wie die Ergebnisse der Ermittler, die in der Tatnacht
geschlampt und gerichtsfeste Beweismittel zerstört haben. Beinahe ist
man geneigt, Staatsanwälte und Richter in Italien für so unfähig zu
halten, wie es der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi
immer behauptet. Das große Interesse an diesem Mordfall lässt sich
vordergründig mit einer neuen Lust am Pranger erklären, die in
Deutschland seit einigen Jahren festzustellen ist. Ob Jörg Kachelmann
oder Christian Wulff – die Öffentlichkeit scheint gerne dabei zu
sein, wenn Staatsanwälte prominente Personen über Monate vorführen
und beschädigen. Ganz gleich, ob die Zeugenaussagen wackeln oder der
Streitwert geringfügig ist. Oder Behörden das Steuergeheimnis
verletzen, wie bei den – bis zur Veröffentlichung des Steuervergehens
– als moralische Instanzen wahrgenommenen Uli Hoeneß und Alice
Schwarzer. Bei der Feministin kommt hinzu, dass sie als
Berichterstatterin sehr aktiv daran beteiligt war, die Verhandlung
gegen Jörg Kachelmann für ihre und Boulevard-Zwecke zu nutzen. Diese
Form genereller Schaulust bei Prozessen ist ein Grund für das enorme
Interesse am Fall Amanda Knox. Der zweite Grund: Aufgrund von
Vorurteilen, die auf tatsächlicher oder vermeintlicher
Menschenkenntnis basieren, kann jeder eine Meinung zu Schuld oder
Unschuld der US-Amerikanerin haben. »Die war–s« oder eben: »Die war–s
nicht«. Ähnlich verhält es sich bei der seit dem 3. Mai 2007
vermissten Madeleine McCann. Hier polarisieren die Eltern, in erster
Linie die Mutter Kate McCann. Weltweit gängiger Tenor: Wer auf seine
vierjährige Tochter nicht aufpasst, ist selbst schuld. Noch weiter
gingen die Vermutungen, dass die Eltern in das Verschwinden ihres
Kindes selbst verwickelt sein könnten. Solche, meistens anonyme,
Stimmungsmache im Netz zeigt eine bedenkliche Entwicklung.
Online-Foren sind die Pranger von heute. Die Kommentare dort sind die
Klosprüche des 21. Jahrhunderts. Passenderweise heißt es »Shitstorm«.
Vor dem Internet-Zeitalter hätte es für so viele Meinungen gar nicht
genügend Toilettentüren gegeben.
Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261
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