Die Schotten haben entschieden: Sie werden an die
bisher schon drei Jahrhunderte dauernde Beziehung mit England
zumindest noch ein paar Jahrzehnte anhängen. Doch in London hat man
erkannt, dass man sich nun nicht erleichtert zurücklehnen kann, denn
schließlich hat fast die Hälfte für eine Abspaltung gestimmt. Das war
also mehr als eine banale Trotzreaktion der verhassten Hauptstadt
gegenüber. So wie David Camerons Zugeständnisse hinsichtlich mehr
Autonomie für die Regionen eine richtige Reaktion war, so muss das
Schottland-Referendum auch an anderen Regierungssitzen in der EU die
Alarmglocken schrillen lassen: in Madrid, in Brüssel, in Rom. Die
Entscheidung, den Status quo zu erhalten, bedeutet nicht automatisch
auch dessen Billigung und Absegnung.
National anders gelagert, aber im Prinzip nicht unähnlich, ist die
Lage in Spanien. Dort bereitet Katalonien für den 9. November
ebenfalls ein Referendum vor. Wäre das schottische Votum anders
ausgegangen, hätte das die katalanische Kampagne zusätzlich befeuert.
Die Rhetorik, mit der Madrid am Freitag den Sieg der schottischen
Unabhängigkeitsgegner feierte, ist bestenfalls kurzsichtig und könnte
sich rächen.
Auch in Italien hat man Schottland beobachtet. Und wenn der
Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher sagt, er hätte sich ein
Ja zur Abspaltung gewünscht, dann spricht das Bände für den
innenpolitischen Zustand des gesamten Landes: So wie im Falle
Schottlands handelt es sich bei der autonomen Provinz im Norden
Italiens um eine wohlhabende und sozial sehr gut abgesicherte Region.
An wirtschaftlicher Schieflage und Chancenlosigkeit kann es also
nicht liegen.
Kompatschers Zusatz, er hoffe, die EU verstehe den starken Wunsch
regionaler Bewegungen nach Eigenständigkeit, ist fast schon als
Arbeitsauftrag zu verstehen – nicht nur für Rom, sondern auch für
Brüssel: Überdenkt gründlich das Konzept der Nationalstaatlichkeit!
Solche Gedankengänge mögen prinzipiell legitim sein, während Slogans
wie „Besser ein Tag als Braveheart als hundert Jahre ein Diener der
Banken“ von Lega-Nord-Politiker Mario Borghezio schon eher in die
Schublade des flachen Populismus gehören. Doch auch die
norditalienische Separatistenpartei trifft einen Nerv, sonst wäre sie
in der Region kaum seit Jahrzehnten so erfolgreich. Und dann Belgien:
Dort verfolgt man die Idee eines konföderalistisches Konzepts für
Flandern im Norden und Wallonien im Süden. Das Resultat wäre auch
hier die Absicherung regionaler Identitäten.
Im 15. Jahr des 21. Jahrhunderts werden nationalstaatliche Grenzen
im vereinten Europa immer mehr obsolet. Gleichzeitig ist aber das
Bedürfnis vieler seiner Bewohner festzustellen, sich in einer
Identität zu finden, die eben nicht „europäisch“ oder
nationalstaatlich, sondern regional – oder gar nur lokal – verwurzelt
ist.
Solche Anzeichen geflissentlich zu übersehen, nicht ernst zu
nehmen, als rückständig abzutun oder gar polternd drüberzufahren, das
birgt ein großes Risiko. Die Regierungen täten gut daran, Europa
nicht nur als (de facto) Wirtschafts- und (idealerweise)
Sicherheitsgemeinschaft zu verstehen, sondern auch als Raum für das
persönliche Leben. Und das bedingt die Rücksichtnahme auf ein
fundamentales menschliches Bedürfnis: sich irgendwo zugehörig fühlen
zu können – und sei es bloß im Kleinen.
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