BERLINER MORGENPOST: Digitales Mobbing/ Ein Leitartikel von Hajo Schumacher

In einem relativ freien Land hat jeder Bürger das
Recht, Talkshows zu besuchen, Talkshows zu moderieren, Talkshows zu
schauen oder aber Talkshows zu meiden. Sahra Wagenknecht meidet die
TV-Gespräche selten. Und zuletzt hatte sich Markus Lanz offenbar
vorgenommen, die aparte Linke zu grillen. Der ZDF-Moderator bohrte
und unterbrach, zuweilen ziemlich charme-reduziert, und manövrierte
Frau Wagenknecht damit unerwartet in die Rolle des Talk-Opfers.

Der Erkenntnisgewinn war überschaubar, aber der Unterhaltungswert
immens: kein durchinszeniertes Bauerntheater wie bei so vielen
anderen Sendungen, sondern eine entgleisende Schlacht mit slomkaesken
Elementen, die das verkünstelte Medium Fernsehen mit Fetzen von
Echtheit anreicherten.

Zuschauer dürfen dankbar sein für solche Momente des
Nicht-Geplanten, für Überraschendes, Entlarvendes, im besten Sinne
Transparentes. Erst wenn Erwartungen durchkreuzt werden, wundert,
ärgert, freut sich das Publikum, und am Ende hat sich jeder ein
bisschen Meinung gebildet – so geht Demokratie.

Zum Glück gibt es keine Gesetze, die den Ablauf von Talkshows
regeln, im Gegenteil: von aggro bis kuschel, von doof bis klug, von
souverän bis peinlich reicht die Palette der allabendlichen
Gespräche. Man nennt es Vielfalt. Und die gilt es auszuhalten. Nun
hat jenes Wagenknecht-Tribunal eine Zuschauerin so erbost, dass sie
eine Petition ins Netz stellte, die weit über 100.000 Menschen
unterzeichneten. Die Forderung: Weg mit Lanz. Haben wir es mit einem
Fall von medialer Basisdemokratie zu tun? Eher nicht.

Die Petition dient Minderheiten als Instrument, um auf Missstände
aufmerksam zu machen. Für Berufsverbote sind Petitionen nicht
vorgesehen. Der Anti-Lanz-Aufruf kommt im Gewand des Bürgerentscheids
daher, ist aber in Wirklichkeit digitales Mobbing. Denn hier geht es
nicht um große Probleme, sondern um Befindlichkeit, Geschmack und
Meinung, also private Dinge, die auch mit dem ewig wiederholten
Hinweis auf die Rundfunkgebühren nicht gesellschaftsrelevanter
werden.

Jemandem einfach mal eine reinzuhauen, digital und anonym, das
scheint ein ewiges Bedürfnis zu sein, ganz wie früher in der Schule,
als sich die Horde großer Jungs sehr stark vorkam, weil sie den
bebrillten Schwächling kopfüber in den Mülleimer gestopft hatten. Was
manche Schwarm-Intelligenz nennen, ist bisweilen animalische
Rudel-Aggression. Höchste Zeit für eine Online-Petition gegen
schwachsinnige Online-Petitionen.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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