Das hätte Angela Merkel einfacher haben können: Sie
hätte gleich Joachim Gauck nominieren sollen. Zumal sich die
Pastorentochter und der ehemalige protestantische Pfarrer stets gut
verstanden haben und Merkel auch die Laudatio zu Gaucks 70.
Geburtstag hielt. Aber sie hat Christian Wulff durchgesetzt, weil sie
einen parteiinternen Konkurrenten aus dem Weg räumen wollte.
Jetzt steht Merkel als Verliererin da: Die schwächelnde FDP hat sich
gegen die Regierungschefin gestellt, ihre Kandidaten abgelehnt und
Merkel düpiert. Vertreter der Grünen und vor allem der SPD
frohlocken, weil sie Merkel ihren Kandidaten, der 2010 dem
CDU-Politiker Wulff unterlegen war, aufoktroyieren konnten. Kein
Wunder, dass sie die Nominierung Gaucks als ihren Sieg feiern.
Gäbe es in Deutschland eine Volkswahl, hätte der Bundespräsident
ohnehin seit 2010 Joachim Gauck geheißen. Warum in Deutschland mehr
als 66 Jahre nach Kriegsende noch immer eine nicht mehr begründbare
Angst vor zu viel direkter Demokratie herrscht, ist mit rationalen
Argumenten nicht zu beantworten. Denn die Deutschen haben, anders als
die Österreicher, Lehren aus der Geschichte gezogen. Und der deutsche
Bundespräsident hat weitaus weniger Machtbefugnisse als das
österreichische Staatsoberhaupt. Umso wichtiger ist für den deutschen
Bundespräsidenten die Macht des Wortes.
Auch wenn Gauck selbst sagt, er sei kein Supermann, so ist er doch
der richtige Mann im richtigen Moment: Die Reaktionen auf seine
Bestellung zeigen, dass Gauck nicht nur dem Amt jene Würde
wiedergeben kann, das durch den Rücktritt Horst Köhlers und die
Affären Wulffs beschädigt wurde.
Gauck ist ein Hoffnungsträger, der – wie einst der auf die Prager
Burg katapultierte Schriftsteller Václav Havel – über sein Land
hinaus Strahlkraft entwickeln kann: einer, der der weit verbreiteten
Politikerverdrossenheit nicht nur trotzen kann, sondern der
Demokratie neuen Schub verleihen dürfte. Er tritt nicht wie ein
Parteienvertreter auf und verkörpert die Sehnsucht nach einer anderen
Politik, nach anderen Politikern. Er spricht die Menschen und ihre
Probleme direkt an und verschanzt sich nicht hinter Floskeln und
Ausflüchten.
In Deutschland wie in Österreich ist die Kluft zwischen Politikern
und der Bevölkerung größer geworden. Immer mehr Menschen wenden sich
vom Politgeschehen ab. Die weit verbreitete Einschätzung ist:
Politiker bekämpfen sich gegenseitig, sagen nicht die Wahrheit und
haben nur die nächste Wahl im Blick.
Dass mit Merkel und Gauck zwei protestantische „Ossis“ 22 Jahre nach
der Wiedervereinigung den Sprung an die Spitze in Deutschland
geschafft haben, ist ein gewichtiges Signal für das Zusammenwachsen
von Ost und West. Beiden Karrieren gingen nicht evolutionäre
Entwicklungen voraus, sondern revolutionäre: Im Schloss Bellevue
mussten zwei Präsidenten scheitern, ehe ein Ostdeutscher zum Zug kam;
Helmut Kohl stolperte über die CDU-Spendenaffäre und riss Kronprinzen
wie Wolfgang Schäuble mit, sodass eine unbelastete Politikerin wie
Merkel eine Chance bekam.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass just Gauck der präsidial
agierenden Moderatorin Merkel gefährlich werden könnte: Indem er zum
Widerpart wird, den sie in ihrer Partei nicht mehr hat, weil er die
Deutungshoheit in Deutschland erringt.
Rückfragehinweis:
Der Standard
Tel.: (01) 531 70 DW 445
Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom
Sie muessen eingeloggt sein um einen Kommentar zu schreiben Einloggen