Das Drama vor der Insel Giglio hat die Albträume
jedes Kreuzfahrttouristen wahr werden lassen. Wer jemals vor der
gigantischen Wand einer dieser schwimmenden Ferienfarmen stand, hat
über das Zusammenspiel von Wind und Physik nachgedacht: Können die
Dinger wirklich nicht umkippen? Wer von Deck an die Küste blickte,
fragte sich bang, ob wirklich immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel
ist und der Kommandant auf der Brücke integrer als ein
Bundespräsident. Wer schließlich jemals tief im Bauch eines solchen
Kolosses zu schlafen versuchte, der konnte sich kaum gegen eine
grausliche Urangst sträuben: dass jeder, der hier unten wohnt,
mindestens zehn, zwanzig Treppenabsätze hochhasten muss zu den
Rettungsbooten, zusammen mit Tausenden panischer Mitreisender, die
dasselbe Ziel haben. Was, wenn ein Senior auf den Rollator angewiesen
ist? Was, wenn die Verständigung zwischen Personal und Passagier
nicht ganz so reibungslos läuft wie bei der Übung? Und überhaupt:
Kommt der TÜV hier gucken? Oder ist die Sicherheit kostenmäßig ebenso
durchoptimiert wie jeder andere Handgriff in der Boomindustrie zur
See? Das Unglück der „Costa Concordia“ bedient alle Passagierängste
auf einmal. Überfordertes Personal, labile Wasserlage, Fluchtwege
ohne große Chancen. Dass die Reederei alle Schuld beim Kapitän
ablädt, ist billig. Wer hat den Mann denn eingestellt und ihm
Menschenleben überantwortet? Wobei die Frage bislang unbeantwortet
blieb, wo die anderen Offiziere steckten, die Einwände hätten äußern
können gegen waghalsige Manöver? Mag die Seereise sicherer sein als
eine Tour mit dem Rad durch die Berliner Innenstadt, so gemahnt die
Havarie der Traumfabrik zugleich daran, dass die Seefahrt auch im
eher gutmütigen Mittelmeer nie frei ist von Risiken. Bei massivem
menschlichem Versagen hilft manchen kein Rettungsboot, schon gar
nicht denen, die mitten im Schiff stecken und sich zuerst um das Wohl
der Reisenden zu kümmern haben – den Angestellten. Dass ausgerechnet
der Schiffsführer entgegen allen seemännischen Gepflogenheiten
offenbar besonders zügig von Bord ging, wirft ein trübes Licht auf
einen Tourismuszweig, der zum Massenbetrieb wuchs. Was früher die
Busreise in ferne Länder, ist heute die Kreuzfahrt. Überaus
preisbewusste Kunden treffen auf global agierende Unternehmen, die
nur mit brutalem Kostenmanagement bestehen können: Jeder Passagier
mehr, jeder genutzte Quadratmeter, jeder Hungerlohn pro Törn bedeutet
Vorteile in einem knallharten Wettbewerb. Die Regeln dafür bewegen
sich in einer seit jeher internationalisierten Branche traditionell
auf dem Level der lockersten Ländergesetze. Wenn der tragische Fall
der „Costa Concordia“ einen Sinn hat, dann liegt er im Erinnern
daran, dass die Seefahrt keine Spaßveranstaltung ist, sondern das
Verantwortungsbewusstsein aller Beteiligten erfordert, auch der
Passagiere: Wer nur nach Schnäppchen jagt, der riskiert, von einem
Schnäppchenkapitän ins Unheil gesteuert zu werden.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
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