DER STANDARD-Kommentar „Die Politik tritt zurück“ von Christoph Prantner

Der Spitzenkandidat landet einen historischen
Erdrutschsieg, gewinnt die absolute Mehrheit an Sitzen, hat als
kommender Ministerpräsident so viel Macht, wie sie zuletzt vor
Jahrzehnten ein Diktator in seinem Land hatte – und dann stellt sich
Mariano Rajoy in Madrid vor die Öffentlichkeit, spricht von einer
Kooperation mit der schmählich abgewählten Linken und erwägt sogar
die Berufung von Experten in sein zukünftiges Kabinett. Wie verzagt
muss der Mann sein, dass ihm so etwas einfällt?
Offenbar sehr. Dabei stehen die Spanier nicht einmal alleine da. Sie
geben nur das vorerst jüngste Beispiel in einer Serie von Ereignissen
ab, die nichts weniger als den Rücktritt der Politik illustriert. Es
zeigt sich, wie in vielen anderen europäischen Staaten nun auch in
Spanien, wie sehr die Demokratien bereits zerschlissen, wie sehr die
herkömmlichen Regierungssysteme in dieser Großkrise schon erodiert
sind.
Rajoy, den sie wegen seines _knochentrockenen, technokratischen
Auftretens den „Notar aus Galicien“ nennen, Professor Mario Monti in
Italien und der Eurobanker Lucas Papademos in Griechenland sind
Regierungschefs neuen Zuschnitts. Sie müssen sich – auch wenn sie,
wie Rajoy, eben gewählt wurden – nicht mehr vor dem Volk als Souverän
verantworten, sondern vor allem vor den Finanzmärkten. Ihre Aufgabe
ist nicht mehr das Gestalten und Verwalten. Dazu sind die politischen
Spielräume längst zu eng geworden. Sie müssen sparen, kürzen und vor
allem jene Anweisungen befolgen, die – schon wieder Technokraten – in
den Bürotürmen in Brüssel ausgegeben werden.
Von nationaler Souveränität, die noch so etwas wie einen politischen
Manövrierraum ermöglichen könnte, ist schon lange keine Rede mehr.
Selbst bei den europäischen Schwergewichten Deutschland, Frankreich
oder Großbritannien nicht. Auch deren Regierungen haben in der
Zwischenzeit erkennen müssen, dass ihnen in einem globalisierten
Finanzsystem längst eine kritische Masse an Einfluss fehlt, um den
Lauf der Dinge nach ihren Interessen zu beeinflussen. Ganz zu
schweigen von der Bundesregierung in Österreich, die gelegentlich den
Anschein erweckt, heilfroh zu sein, dass sie in der gegenwärtigen
Krise ohnehin nichts zu melden hat.
Hatte man sich früher taxfrei mehr europäische Integration und
Brüsseler Expertise wünschen können, um die ärgsten nationalen
Seltsamkeiten abzufedern, kann der Sachzwang als Regierungsform heute
gefährlich und unkontrollierbar werden. Schon bisher hatten die
Europäer in ihrer Union nicht das Gefühl, besonders viel mitbestimmen
zu können. Das wird in der neuen Situation nicht besser werden. Und
davon dürften vor allem jene Populisten profitieren, die so wenig
Verantwortung tragen wollen, wie sie Verständnis für die gegenwärtige
Notlage haben.
Gegen diese Gefahr hilft nur, dass ernstzunehmende Politiker ihren
Beruf auch wieder ernsthaft ausüben und das vielbeschworene Primat
der Politik wiederherstellen. Die Techniker mögen ihre Zeit haben,
die Politiker müssen um ihre Zukunft – und jene der Demokratie –
kämpfen.
Verlieren sie diesen Kampf, wird weder von den europäischen
Nationalstaaten noch von deren Union viel übrigbleiben. Denn mit dem
Diktat des Sachzwangs lässt sich keine Zukunft gestalten. Damit
lassen sich bestenfalls Sünden aus lange vergangenen Zeiten abbüßen.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom

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