„DER STANDARD“-Kommentar: „Der Beute-Sohn“ von Gudrun Harrer

Dass er es in all diesen Wochen nicht aus Libyen
herausgeschafft hatte, zeigt das Ausmaß des Zusammenbruchs des
Gaddafi-Regimes in Libyen: Alle Netzwerke waren für Saif al-Islam
al-Gaddafi zusammengebrochen, niemand brachte ihn über die Grenze.
Dem Lynchtod seines Vaters in den Händen der Ex-Rebellen hat er wohl
hauptsächlich sein eigenes Leben zu verdanken: Dass Barbarei sich
international nicht gut macht, wurde den Milizen, die ihn jagten,
offenbar klargemacht.
Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, dass der älteste Sohn aus
Muammar al-Gaddafis zweiter Ehe seine Verhaftung überlebt hat. Die
Kämpfer aus Zintan beziehungsweise deren Befehlshaber wollen ihn
nämlich einer Zentralgewalt nicht überstellen, bevor die Bildung der
neuen Regierung von Abdul Rahim al-Kib nicht abgeschlossen ist. Nicht
aus mangelndem Vertrauen in die Zukunft der Institutionen, sondern
weil Zintan mit – dem lebenden – Gaddafi in der Hand ein größeres
Stück vom Kuchen gebührt: So funktioniert Politik im neuen Libyen.
Schon in einer relativ frühen Phase des Kriegs haben die einzelnen
bewaffneten Gruppen damit begonnen, militärische Erfolge oder
handfeste martialische Beute – wie Gefangene eben – dazu zu benützen,
ihren Forderungen nach einer größeren politischen Rolle mehr Gewicht
zu verleihen. Ein Gefangener wie Saif al-Islam al-Gaddafi ist in
dieser Konstellation viel wert.
Und deshalb wurde nicht der Gefangene zur Staatsmacht gebracht,
sondern diese kam zum Gefangenen: Der Premier reiste nach Zintan, wo
Gaddafi einstweilen festgehalten wird. Dass er dem Internationalen
Gerichtshof ausgeliefert werden könnte, ist vom Tisch. Auf ihn wartet
ein libysches Gericht und ein Todesurteil.
Denn aus demjenigen, der auch in Libyen selbst jahrelang als der
rationalste und international präsentabelste Gaddafi-Sohn
wahrgenommen wurde, ist nun derjenige geworden, der die ganze Schuld
des Regimes trägt. Nicht nur weil er am längsten durchgehalten hat.
Durch seine Medienpräsenz zu einer Zeit, als sein Vater nur noch in
irren Tonaufzeichnungen im syrischen Sender al-Rai zu hören war,
wurde er zum Gesicht des Regimes – und selbst immer erratischer. Was
für eine traurige Karriere für einen, dem man einmal Reformwillen und
sogar die Fähigkeit zugesprochen hat, Libyen vielleicht in eine
Übergangszeit zu führen.
Die Wut der Libyer auf den einzigen Gaddafi-Sohn in ihrer Gewalt ist
groß. Der fromme Wunsch nach einem Prozess, der internationalen
rechtlichen Standards folgt, darf dennoch ausgesprochen werden: Das
wäre auch eine wunderbare Gelegenheit für westliche Politiker, sich
einzubringen und Tripolis nicht nur mit Geschäftsleuten im Tross
heimzusuchen.
Immerhin wird Saif al-Islam jetzt vielleicht zum
Beschleunigungsfaktor für die schwierige libysche Regierungsbildung:
Denn ohne Einigung kann es auch keinen Gaddafi-Prozess geben.
Vielleicht hat ja die Aussicht darauf erst einmal ein einigendes
Element – das Libyen so dringend brauchen würde. Die jüngsten
Gefechte zwischen Stämmen waren ein düsteres Zeichen. Und immer
wieder klagen bekannte Ex-Rebellen – Ex-Regierungschef Mahmud Jibril
und der Botschafter bei der Uno in New York, Abdul Rahman Shalgham –
das Golfemirat Katar an, in Libyen die Islamisten zu Ungunsten der
anderen politischen Kräfte zu fördern.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom

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