Der US-Politikwissenschafter Francis Fukuyama rief
1992 das Ende der Geschichte aus. Nach dem Kalten Krieg und Fall des
Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer schien tatsächlich Ruhe
einzukehren – zumindest aus europäischer Sicht. Die Integration
innerhalb der EU schritt voran, Grenzen wurden durchlässiger. Moskau
wurde zu gemeinsamen militärischen Übungen eingeladen und die
Gemeinschaft der sieben weltweit führenden Wirtschaftsländer um
Russland erweitert.
Doch seit diesem Sommer, in dem sich just der Erste Weltkrieg zum
hundertsten Mal jährt, ist nichts mehr so, wie es scheint. Wer sind
die Guten, wer die Bösen? Im arabischen Raum herrscht Chaos, vor
Jahrzehnten gezogene Landesgrenzen werden nicht mehr akzeptiert,
Russlands Präsident Wladimir Putin ist zu einem nicht mehr
kalkulierbaren Faktor geworden.
Beispiel Ukraine: Dass sich Russland die Krim einverleibt und eine
Abspaltung zumindest der Ostukraine aktiv unterstützt, ist noch zu
Jahresbeginn als unrealistisches Szenario angesehen worden.
Inzwischen sind Folgen der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Moskau
auch in Österreich spürbar, und die Frage der Energieversorgung im
nächsten Winter wird in Europa mit Sorge diskutiert.
Bisher unterstützte die EU Kiew mit der Begründung, in der Ukraine
werden europäische Werte und die Demokratie verteidigt. Dass aber
diese Regierung mit Neonazis kooperiert und, wie ein ARD-Bericht
dokumentiert, rechtsradikale Milizen an der Seite der regulären
Truppen kämpfen, will nicht so recht in das Freund/Feind-Schema
passen. Sind die für gut Erklärten doch nicht so gut?
Plötzlich sind auch die Taliban oder Al-Kaida nicht mehr die ganz
Bösen. Aus dem scheinbaren Nichts tauchte eine Organisation wie der
Islamische Staat (IS) auf, neben der die anderen Terrorgruppen
vergleichsweise harmlos wirken. Die USA sind nun sogar zu einem
Paradigmenwechsel bereit: Syrien zu bombardieren, um die IS zu
bekämpfen. Luftschläge zur Unterstützung der Opposition im syrischen
Bürgerkrieg lehnte Washington bisher ab. Die ehemalige
Außenministerin Hillary Clinton warf jüngst Präsident Barack Obama
vor, dass er durch sein zögerliches Verhalten im Syrienkonflikt die
IS erst groß gemacht habe. Das Assad-Regime erscheint nun nicht mehr
als der schlimmste US-Gegner in der Region, der Bürgerkrieg in dem
Land ist aus den Schlagzeilen verschwunden.
Dass Kurden von EU-Staaten, darunter sogar Deutschland, mit Waffen
beliefert werden, hätten außenpolitische Experten noch vor einigen
Monaten ausgeschlossen – nicht zuletzt wegen des Nato-Partners
Türkei. Aber den kurdischen Peschmerga traut man als einziger
Gruppierung zu, der IS Paroli bieten zu können. Dass Waffen „in
falsche Hände“ gelangen könnten, davon ist plötzlich keine Rede mehr.
Im Nahen Osten ist die Hamas in den vergangenen Jahren radikaler
geworden. Die Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern, die
selbst Journalisten vor Ort nicht vorhergesehen haben, zeigt, dass
sich in der Zwischenzeit noch radikalere Gruppierungen gebildet
haben, die nicht nur Israel vor neue Herausforderungen stellen.
Es scheint, als ob die Welt aus den Fugen geraten ist. Bisherige
Dogmen in der sogenannten Realpolitik gelten nicht mehr, die realen
Entwicklungen überraschen selbst Experten. Statt ans Ende der
Geschichte scheinen wir ans Ende der Gewissheiten gelangt zu sein.
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