DER STANDARD-Kommentar: „Wie sich dieÖVP selbst entfesselt“ von Michael Völker

Michael Spindelegger ist ein Parteichef auf Abruf.

Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl ist gerade dabei, ihn
nachhaltig zu beschädigen: Leitl hat Spindelegger Ahnungslosigkeit
unterstellt. Einen heftigeren Vorwurf kann man dem ÖVP-Chef im
Finanzministerium kaum machen. Dass diese Attacke aus dem gewichtigen
Wirtschaftsflügel der ÖVP kommt, macht es für Spindelegger noch
schlimmer.

Der Zustand der ÖVP ist besorgniserregend. Es regnet von allen
Seiten herein. Spindelegger hat die Partei auf seine freundliche,
aber doch bestimmte Art ideologisch eingebunkert: Er setzt ganz auf
konservative Wertvorstellungen und gibt ein gesellschaftspolitisches
Bild vor, das gut zu seinen persönlichen Lebensumständen passt, das
aber wenig Freiraum für Andersdenkende und Andersfühlende lässt. Ob
Schule, Familie, Religion, Sexualität, selbst Arbeitsleben und
Wirtschaftspolitik – die ÖVP ist nicht aufgeschlossen. Von
Entfesselung keine Spur. Eher das Gegenteil.

Junge, liberale und lebenslustige Menschen werden von der ÖVP kaum
angesprochen. Denen machen die Neos zurzeit einfach das bessere
Angebot. Die sind so etwas wie die fröhliche und kreative Außenstelle
der ÖVP, beweglich und schlagfertig, das schnelle Boot, das dem
behäbigen schwarzen Tanker davonfährt.

Das muss der ÖVP wehtun: Bei den Neos heuern die inspirierten
Geister an, die mutigen Kleinunternehmer, die bewegten
Großunternehmer, Leute, die etwas wollen, die sich trauen, die sich
engagieren. Das macht diese neue Kleinpartei spannend und attraktiv.
Abgesehen davon sind ihre Mitglieder gut vernetzt, sind
Meinungsbildner und Multiplikatoren, beherrschen die moderne
Kommunikation und befeuern die Social-Media-Kanäle im Netz.

Das muss nicht jedermanns Sache sein, aber die inhaltliche Wüste,
die gesellschaftspolitische Erstarrung und das teilweise weltfremde
Beharren auf einem konservativen Lebensentwurf, der kein Wenn und
Aber kennt, das kann einem bei der ÖVP schon aufs Gemüt schlagen.
Michael Spindelegger verkörpert diese defensive, beharrende Haltung.
Er ist integer und intelligent, höflich, sympathisch und fleißig.
Nett. Aber kreuzbrav. Er ist kein Macher. Er ist auch kein Lasser. Er
ist einer, der die Scherben der ÖVP zusammenkehrt, jeden Tag aufs
Neue.

Schwerer wiegt noch, dass sich Wirtschaft und Industrie –
abgesehen von der Diskussion über das gesellschaftspolitische
Wiederfinden – von der ÖVP nicht mehr gut vertreten fühlen. Mag sein,
dass Leitl auch persönliche Motive hat, dass gekränkte Eitelkeiten
und abgeschminkte Ambitionen eine Rolle spielen. Aber er gibt wieder,
was viele in der ÖVP denken: Dass im Finanzministerium politische
Leichtgewichte sitzen. Dass Potenziale nicht gehoben werden, dass
Chancen vertan werden. Dass Leute nicht angesprochen und abgeholt
werden. Dass das Gerede von der Entfesselung der Wirtschaft nicht
mehr als ein kontradiktorischer Witz war.

Der wirtschaftspolitische Kleinmut steht der ÖVP nicht gut. Leitl
mag nicht der beste Zeuge gegen die inhaltliche Enge und für einen
visionären Weitblick sein, aber er weiß offenbar viele in der ÖVP mit
seiner Kritik am Parteichef hinter sich. Wenn auch Spindelegger die
Zeichen erkennt, wird er eine Übergabe vorbereiten. Ehe sich die
Partei selbst entfesselt und Spindelegger unvorbereitet und ungefragt
übergeben wird.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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