„DER STANDARD“-Kommentar: „Wer zuerst bremst, verliert“ von Günther Oswald

Es ist ein unwürdiges Schauspiel, das Demokraten und
Republikaner in den vergangenen Monaten abgeliefert haben. Im Streit
um das US-Budget agierten sie wie testosterongeladene Jugendliche.
Sie fuhren um die Wette auf den Abgrund zu. Nach dem Motto: Wer
zuerst bremst, verliert. Trotzdem wissen natürlich beide Seiten, dass
sich der andere nicht in den Tod stürzen will und wird.
Der vorläufige Kompromiss, den die Verhandler im Senat nun über
Silvester vereinbart haben, wäre auch schon vor zehn Tagen zu
erzielen gewesen, oder auch vor einem Monat. US-Präsident Barack
Obama bekommt seine höheren Steuern für Vermögende. Die Konservativen
dürfen sich darüber freuen, dass die Mittelschicht weiter niedrige
Steuersätze bezahlen wird.
Das politische Spiel in Washington wird aber anders gespielt. Die
erste Spielregel lautet: Es darf nicht zu einfach sein. Einzelne
Republikaner haben zwar nach der neuerlichen Wahlniederlage gegen
Barack Obama angedeutet, dass sie in den kommenden vier Jahren eine
pragmatischere Rolle einnehmen werden, die Praxis zeigt aber, dass
sich am Patt wenig geändert hat und ändern wird. Mangels Mehrheit im
Repräsentantenhaus wird Obama auch in Zukunft keine großen Sprünge
machen können.
Nach dem Hickhack ist also vor dem Hickhack. Was bei dem nunmehrigen
Senats-Kompromiss nämlich nicht übersehen werden darf: Bei den
Kürzungen auf der Ausgabenseite gibt es in den Details noch
keineswegs eine Einigung. Konsens besteht lediglich darin, dass sich
die beiden Kontrahenten zwei Monate mehr Zeit geben. Man darf also
gespannt sein, ob es beispielsweise beim Schwerpunkt Kürzungen der
Rüstungsausgaben bleiben wird.
Bei all dem politischen Geschachere, das man selbst in Österreich
schwer überbieten könnte, sollte man aber nicht außer Acht lassen:
Seine minimale Handlungsfähigkeit hat das US-System bisher noch immer
unter Beweis gestellt. Panische Meldungen à la „Die USA werden die
ganze Welt in eine neuerliche Rezession schicken“ sollten also nicht
allzu ernst genommen werden.
Können wir uns daher entspannt zurücklehnen und mit Optimismus in die
Zukunft sehen? Keinesfalls. Selbst wenn massive Steuererhöhungen für
die breite Masse ausgeblieben sind, wird die größte Volkswirtschaft
der Welt heuer kaum mehr als zwei Prozent wachsen. Wenn überhaupt. Zu
wenig jedenfalls, um für einen deutlichen Rückgang der
Arbeitslosenzahlen zu sorgen.
Die Rosskur steht den Amerikanern noch bevor, was eine Parallele zu
Europa darstellt. Selbst wenn wieder halbwegs passable Wachstumsraten
erzielt werden, wird es nicht ein oder zwei Jahre, sondern eher ein
Jahrzehnt oder noch länger dauern, bis die Schulden wieder auf ein
halbwegs akzeptables Niveau sinken. Die Staatsschuldenquote der
Vereinigten Staaten von Amerika ist nämlich in den Jahren nach
Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auf mittlerweile über 100 Prozent
der Wirtschaftsleistung geklettert. Jene der nicht-vereinigten
Staaten der Eurozone liegt auch bei deutlich über 90 Prozent. Zur
Erinnerung: 90 Prozent ist jene Grenze, die der bekannte US-Ökonom
Kenneth Rogoff als historische Pleitegrenze ausgemacht hat.
Bis jetzt haben sich die USA also nur Zeit erkauft. Die finanziellen
Probleme sind damit längst nicht gelöst.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom

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