DER STANDARD-Kommentar: „Putin–sche Dörfer“ von Josef Kirchengast

Deeskalation heißt das Zauberwort. Dazu müsse
Russland im Ukraine-Konflikt bewogen werden, mit geduldiger
Diplomatie und, wenn die nichts fruchtet, mit schärferen, auch
wirtschaftlichen Sanktionen. Das Genfer Treffen war ein weiterer
Versuch in diesem westlichen Krisenmanagement, das so alternativlos
ist, wie es hilflos erscheint. Denn wenn Kremlchef Wladimir Putin an
einer Entspannung interessiert wäre, gäbe es die gewaltsame
Konfrontation in der Ostukraine nicht. Dann wäre es auch nicht zur
Annexion der Krim in dieser Form gekommen. In seiner großen
Fernsehshow hat Putin jetzt nicht nur russische Militärpräsenz auf
der Halbinsel vor der Annexion zugegeben, sondern sich auch das Recht
vorbehalten, in der Ostukraine militärisch zu intervenieren. Die
Botschaft an die Landsleute ist klar: Nur wenn Russland Stärke zeigt,
wird es vom feindlichen Westen und seinen Kiewer Bütteln respektiert.
Und deshalb ist Putin-Russland nicht an Stabilisierung einer Ukraine
unter prowestlicher Führung interessiert. Voraussetzung dafür ist ein
regulärer Verlauf der Präsidentschaftswahlen am 25. Mai. Dann hätte
die Ukraine eine demokratisch einwandfrei legitimierte Spitze. Die
Wahrscheinlichkeit, dass diese Führung einen kremltreuen Kurs
steuert, scheint äußerst gering. Also ist es aus Moskauer Sicht nur
konsequent, dafür zu sorgen, dass ein unerwünschtes Wahlergebnis
unter Hinweis auf irreguläre Verhältnisse angezweifelt werden kann.
Das ist das kurzfristige Ziel. Mittelfristig geht es Putin darum, die
Lage in der Ukraine zumindest so labil zu halten, dass Moskau
weiterhin entscheidenden Einfluss nehmen kann. Denn die Ukraine ist
vor allem psychologisch ein Schlüsselelement in Putins Projekt einer
Wiedererrichtung der Weltmacht Russland. Ohne die Ukraine hätte die
geplante Eurasische Union noch weniger Strahlkraft als bisher. Geht
die historische Wiege der russischen Nation den Weg einer westlich
ausgerichteten Demokratie, wäre Putin auch bei der derzeit so
euphorischen eigenen Bevölkerung desavouiert. Dies umso mehr, als die
Aussichten für Russlands extrem rohstofflastige Wirtschaft nicht
sonderlich günstig sind. Erfolge bei der Umstrukturierung sind kaum
sichtbar. Offenbar als Ersatz dafür lässt Putin eine neue
Kulturpolitik formulieren. Sie soll Russlands zivilisatorische
Einzigartigkeit im globalen Wettbewerb herausstreichen. Worin diese
besteht, außer in der Ablehnung westlicher Dekadenz, wird nicht klar.
Stattdessen fühlt man sich an die berühmten Potemkin–schen Dörfer
erinnert. Das macht die Sache für den Westen nicht leichter. Hält
Putin an seinem Kurs gegenüber der Ukraine (und anderen Ländern der
Ex-Sowjetunion) fest, werden Wirtschaftssanktionen unvermeidlich. Sie
werden auch die Europäer treffen, Stichwort Energieversorgung.
Mindestens so wichtig aber ist eine westliche Russland-Strategie, die
die Zeit nach Putin (vermutlich ab 2024) im Auge und die russische
Zivilgesellschaft im Fokus hat. Auch jetzt gibt es ja selbst in
Putins Nähe nicht nur Putinisten. So sagt Wladimir Tolstoi, Ururenkel
Leo Tolstois und kulturpolitischer Berater des Kremlchefs, bei den
wichtigsten Errungenschaften der 20 Jahre alten russischen Verfassung
gehe es um „unerschütterliche Normen“. Damit meint er nicht etwa
Bauregeln für Potemkin–sche Dörfer, sondern so etwas Profanes wie das
Verbot der Zensur.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom

*** OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER
INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS – WWW.OTS.AT ***

Sie muessen eingeloggt sein um einen Kommentar zu schreiben Einloggen