DER STANDARD-Kommentar: „Morsis Auflehnung“ von Gudrun Harrer

In Ägypten gibt es viele Juristen – und fast ebenso
viele Meinungen zu Präsident Mohammed Morsis forschem Schritt von
Sonntag, das vom Militärrat Mitte Juni aufgelöste Parlament wieder
einzusetzen: Darf Morsi, der ja auch nach Darstellung – wenn auch
vielleicht nicht nach Auffassung – der Militärs die Exekutivgewalt
übernommen hat, die Entscheidungen der früheren Exekutivgewalt, eben
dieses Militärrats, einfach so, per Dekret, revidieren? Und auch wenn
diese Frage mit Ja beantwortet werden sollte: Darf Morsi auch eine
Entscheidung des Obersten Verfassungsgerichtshofs übergehen? Denn
dieser hatte ja geurteilt, dass das Parlament nicht verfassungsmäßig
ist – und die Militärs hatten im Grunde nur umgesetzt, was die
Richter entschieden hatten (auch wenn diese Entscheidung für sie
natürlich opportun war).
Es gibt noch weitere knifflige Fragen, etwa die, ob der
Verfassungsgerichtshof, der am Montag eilig zusammentraf, überhaupt
zuständig ist dafür, ob und wie seine Urteile umgesetzt werden – so
wie er ja auch die Auflösung des Parlaments nach seinem Urteilsspruch
Mitte Juni nicht selbst veranlassen konnte.
Die juristische Bewertung ist also umstritten, aber vor allem die
politische fällt auch für viele Ägypter, die gegen das Militär sind,
eher negativ aus. Selbst wenn man für die Wider_ständigkeit Morsis
dem Militärrat gegenüber Sympathien aufbringt: Da fährt ein Präsident
bereits am zehnten Tag seiner Amtszeit eben auch über die
Verfassungsrichter drüber, wenn sie ihm im Weg stehen. Auch, wenn
diese Richter aus der Zeit von Hosni Mubarak – der viele ihrer
Urteile ignorierte, genau wie Morsi jetzt – stammen, so wurde der
Gerichtshof als In_stitution doch nie infrage gestellt. Das tut Morsi
jetzt, zumindest indirekt.
Wie geht es jetzt weiter? Morsi absolvierte mit dem
Militärratsvorsitzenden Mohammed Hussein Tantawi am Montag einen
gemeinsamen Termin. War man am Sonntagabend noch völlig davon
überzeugt, dass Morsis Schritt auch für die Militärs überraschend kam
– worauf ja auch die sofort einberufene Krisensitzung hinweist -, so
nährte das Einvernehmen, das Morsi und Tantawi am Montag zeigten,
schon wieder die Gerüchteküche, das Ganze sei abgesprochen. Aber dass
sich der Militärrat die legislative Gewalt, die er sich per
Verfassungserklärung im Juni einstweilen verlieh, so sang- und
klanglos wieder abnehmen lässt, ist nicht wahrscheinlich. Dass Morsi
in seinem Dekret diese Juni-Erklärung einfach ignorierte, ist auf
alle Fälle ein Affront.
Morsi hat jedoch bei aller Forschheit versucht, einen Kompromiss
anzubieten: Das Parlament bliebe nur bis zu Neuwahlen im Amt, die
innerhalb von 60 Tagen nach Gültigwerden – das heißt nach einem
Referendum – der neuen Verfassung stattfinden müssten. Wenn man das
jedoch so interpretiert, dass Morsi den Spruch der
Verfassungsrichter, dass die Parlamentswahlen wiederholt werden
müssen, doch akzeptiert: Was ist mit den Gesetzen, die dieses nicht
verfassungskonforme Parlament verabschiedet?
Das juristische Chaos müssen die Ägypter selbst aussortieren, als
Beobachter bleibt man zerrissen: Man wünscht Ägypten eine zivile
Regierung und ein starkes Parlament – aber nicht einen Präsidenten,
der die Institutionen des Staates respektiert, je nachdem, ob sie ihm
politisch passen, das islamistische Abgeordnetenhaus schon, das
Verfassungsgericht nicht. So ist zumindest die Optik.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom

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