DER STANDARD-Kommentar: „Ein vielfach getesteter Präsident“ von Thomas Mayer

Im Europäischen Parlament in Straßburg mangelte es
nach der Bestätigung von Jean-Claude Juncker als dem künftigen
Präsidenten der EU-Kommission nicht an sprachlichen Superlativen.
Dessen Wahl durch eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten sei „ein
historisches Ereignis“.

Zum ersten Mal sei die wichtigste Personalie der Union von den
Staats- und Regierungschefs nicht im Hinterzimmer ausgehandelt
worden; nicht abseits jeglicher kritischer Öffentlichkeit; nicht ohne
klare Eignungskriterien; ohne Erklärung, warum man sich für den einen
und nicht für den anderen Kandidaten entschieden hat.

In der Tat sind da seit Bestehen der Gemeinschaft und seit den
Anfängen der Hohen Behörde bisher immer auch nur Männer zum Zug
gekommen.

Letzteres ist nun auch beim langjährigen früheren Premierminister
von Luxemburg so. Dennoch sprechen bei den Parlamentariern jetzt
viele – auch solche, die gern eine Frau Präsidentin gehabt hätten –
von einem positiven Schritt für mehr Demokratie in Europa, von einer
„fundamentalen Richtungsänderung“, wie Präsident Martin Schulz das
nennt.

Der deutsche Sozialdemokrat gehört wohl zu den emotionalsten, den
leidenschaftlichsten Politikern, die sich derzeit auf der
europäischen Bühne rumtummeln. Seiner hohen Begeisterungsfähigkeit
entsprechend, sieht er in Junckers Wahl durch das Parlament „den
grandiosen Abschluss eines Prozesses“, bei dem ein Kommissionschef
letztlich als Ergebnis von Europawahlen herauskommt – mit einer
indirekten Bindung an das Votum der Bürger.

Man muss beim Europapolitiker und Parlamentarier Schulz immer eine
gute Portion Pathos abziehen, um den Kern seiner Analysen klarer zu
sehen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er in Sachen
„Juncker Präsident“ deshalb so leidenschaftlich brennt, weil er
selber viel dazu beigetragen hat, dass sich der demokratische Prozess
zur Präsidentenkür an der Spitze Europas zum Positiven verändert hat
– obwohl er als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten Europas gegen
den christdemokratischen Rivalen verloren hat.

Schulz war es, der das im EU-Vertrag seit langem angelegte „System
Spitzenkandidat“ wachgeküsst hat, indem er sich schon vor einem Jahr
selbst zu einem solchen gepusht hat.

Die Volkspartei musste/wollte nachziehen. Nur so kam Juncker im
vergangenen November überhaupt in die Lage, von der deutschen
Kanzlerin Angela Merkel gefragt zu werden, ob er als
christdemokratischer EU-Kandidat anträte mit der Aussicht, dann
Kommissionschef zu werden. Im März kürte ihn ein EVP-Parteikonvent.
Dann führte er – wie Schulz – zwei Monate lang Wahlkampf quer durch
Europa, um dann nach der Wahl wegen der Weigerung des Briten David
Cameron weitere Wochen hingehalten zu werden. An diesen langen
Zusammenhang muss nun erinnert werden. Denn nur dann wird umso
klarer, dass Juncker der am besten getestete Kommissionspräsident
aller Zeiten ist. Er hat Programmverhandlungen mit allen
Parlamentsfraktionen geführt, wird seit Monaten von den Medien
auseinandergenommen.

Und es wird auch noch einige Monate brauchen, bis sein
Kommissarsteam in Straßburg gewählt wird. Bei allen Mängeln des
europäischen Wahlsystems und im System Spitzenkandidat: Das
EU-Parlament hat sich im Namen des Volkes gegen die Regierenden ein
gutes Recht erkämpft, ein demokratisches Aufbrechen.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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