„DER STANDARD“-Kommentar: „Die Stunde der Islamisten“ von Gudrun Harrer

Als Saddam Hussein 2006 unter dem Galgen stand und
seine euphorisierten Henker schiitisch-islamistische Parolen riefen,
da konnte einem schon die Frage durchzucken, ob es mit der
Bollwerkfunktion Saddams gegen religiösen Extremismus – die er selbst
stets als Lebensversicherung seines Regimes ansah – nicht doch etwas
Ernsthaftes auf sich gehabt hatte. Aber dieser Gedanke setzt
natürlich falsch an. Es ist so, dass nach dem Sturz des Diktators
jene extremistischen Kreaturen losgelassen wurden, die er – in diesem
Fall – zwar nicht selbst geschaffen hatte, die jedoch unter seiner
Diktatur erst so richtig gediehen.
Mit den im vergangenen Jahr gestürzten autoritären Regimen in der
arabischen Welt – sowie mit den noch zu stürzenden – verhält es sich
nicht viel anders. Sie waren das Problem, für das sie zugleich, mit
stiller Zustimmung des Westens, die Lösung anboten: Repression. Der
Arabische Frühling hat jedoch nicht nur die demokratischen Kräfte
freigesetzt – wozu durchaus auch islamische gehören -, sondern die
radikalen Islamisten ebenfalls. Und wie an den Entwicklungen in Mali
zu sehen ist, spüren nicht nur die Umsturzländer die Folgen, sondern
weite Regionen. Islamistische Projekte kennen meist keine nationalen
Grenzen und solche aus der Kolonialzeit schon gar nicht.
Konnte man das vorher wissen? Ja, das konnte man, und es gab auch
warnende Stimmen. Das ändert andererseits nichts daran, dass der
Sturz dieser Regime notwendig war und ist. Aber besonders im jetzt
brisanten nordafrikanischen Fall, wo die Nato mit dem Segen der
Arabischen Liga das allen gleich lästige Gaddafi-Regime stürzte, war
der politische Wille zur Blauäugigkeit besonders groß.
Wie hätte die Nato denn sonst ihre Intervention, die über die
„responsibility to protect“ weit hinausging, rechtfertigen können?
Man gratulierte einander jedoch auch noch zum Erfolg, als schon
tonnenweise Waffen und Kriegsmaterial verschwunden – und teilweise
zur „Al-Kaida im Magreb“ und anderen Gruppen abgewandert – waren. Und
es herrschte peinliches Schweigen, als sich die libyschen Säkularen
zu beklagen begannen, dass die Islamisten massiv unterstützt würden:
aus den Golfstaaten, den Verbündeten des Westens gegen Gaddafi – und
jetzt gegen Assad in Syrien.
Auch in der Politik läuft es anders als erwartet, siehe die Wahlen in
Ägypten. Es stimmt schon, was zu Beginn der Revolten
gebetsmühlenartig wiederholt wurde, nämlich, dass bei den
Demonstrationen nicht die Scharia, sondern Freiheit und Würde
verlangt wurden. Daraus die Absage der Menschen an islamistische
Parteien abzulesen war jedoch kühn. Sie sollten bei freien Wahlen
nach dem Umsturz ausgerechnet das wählen, wofür ihre gestürzten
Regime gestanden waren – Repression der Religion und an den
US-Wünschen orientierte Sicherheits-, Außen und Wirtschaftspolitik?
Als in Algerien 1991 die Islamisten die Wahlen zu gewinnen drohten,
wurde die Uhr in der Region durch einen Putsch angehalten – jetzt
läuft sie weiter. Die gefürchteten Muslimbrüder sind inzwischen
bürgerlich geworden, „moderat-islamisch“, wie sie medial heißen. Das
Wort „Salafist“ hingegen ist aus dem Experten- in den normalen
Sprachgebrauch gewandert. Es wird auch wieder verschwinden –
historisch wird es einmal ein postrevolutionäres Phänomen gewesen
sein -, aber das wird noch dauern.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom

Sie muessen eingeloggt sein um einen Kommentar zu schreiben Einloggen